Die Weitung beginnt gleich unterhalb der Augen, auf den Wangenknochen, zur Nase hin, zieht sich von den Ohren entlang zum Hals herunter, am Kehlkopf ist sie auch spürbar, dann in der Höhle unter dem Kinn, da, wo der Hals beginnt, und auf dem Brustbein. Auch an der Seite der Oberschenkel außen sind schon Flächen spürbar, an der Rückseite der Oberarme, an den Ellen unterhalb des Ellenbogens, an der Außenseite der Hände, am äußeren Rand wie heißt der unter den Zehen und auf dem Kopf, ganz oben. Die Augen brennen, sie sind schon leer. Die Ränder sind feucht, darunter und an den Schläfen beginnt die Ausweitung.
Damit könnte man anfangen, sich erstmal zu entleeren, bis gar nichts mehr kommt und man stumm bleibt, weil die Wörter, die Sprache, geformt oder nicht, die gleiche Bedeutung haben wie die Flüssigkeit, die man beim Weinen verliert. Aber wozu sollte man dann noch etwas sagen, wenn man stattdessen schon geweint hat, obwohl man sich an das Weinen gar nicht erinnern kann, nur das Gefühl, lange und ausgiebig geweint zu haben, war auf einmal da.
Obwohl es der andere war, der geweint hat, die andere, ausgiebig, vielleicht sogar stellvertretend für einen selbst noch mit, wenn auch irgendein eigener Kummer der Auslöser gewesen sein mag. Er hat sich übertragen, in welche Richtung zuerst, ist nicht mehr auszumachen. Sie hat ja den ganzen Tag schon über dich nachgedacht, hat sie selbst gesagt. Wußte sie gar nicht, oder war es vielmehr so, daß ich es nicht wußte, trotzdem angerufen habe, als hätte ein Automatismus mich in genau diese Richtung gelenkt, zum Weinen, zum ausgiebigen Weinen hin, das ich mir selbst erspart habe.
Und all diese unklaren Sätze. Die abgeschlossen werden mit der Behauptung, man hätte sich klar geäußert. Und dabei nur mit dem Finger herumgerührt in dem Topf, alles noch weiter vermanscht, bis es ein richtiger Brei wird. Noch weiter drin rühren, in der Hoffnung, den Brei so weit zu verflüssigen, bis man ihn komplett ausweinen kann.
In der Hoffnung, daß etwas Wesentliches übrig bleiben wird, das Feste, Harte, die Kerne, das, was Gewicht hat, damit man es mal zu Gesicht bekommt. Einmal wenigstens, ohne zu wissen, woran man genau ist.
Es könnte auch eine Amöbenmasse sein, ein Gallertartiges, das gar keine festen Ränder hat und auch keinen Kern. Da kann man herumrühren, so viel man will, das ist nur eine Lebensäußerung, eine Bewegung und keine zielgerichtete Handlung. Keine Handlung, die zu einem Ende kommt. Kommen würde. Obwohl man auch einfach damit aufhören kann, aber das ist ja kein Ende, das ist nur ein Aufhören, womit etwas anderes wieder anfängt, das sind Zustandswechsel. Das sind eben wechselnde Zustände. Und immer mehr Wörter absondern, eine Bewegung, Herumrühren ohne Ziel, das anfängt und aufhört, um etwas anderes anfangen zu lassen, das schon längst angefangen hat, immer, aber man bemerkt es erst jetzt, während man vorher noch mit Herumrühren beschäftigt gewesen war, das sind alles so Dinge, die ja dem Lebenslauf, den Abläufen auch ganz gut entsprechen. Etwas anderes ist auch nur ein Kästchen, das man sich baut. Man baut sich ein Kästchen, das kann man sich anschauen, und dann macht man was anderes, oder schaut sich noch ein Kästchen an. Weil man auch danach süchtig werden kann, sich Kästchen anzuschauen, immer eins nach dem anderen, oder auch eins, dann das andere, dann wieder das eine, und so weiter, und vielleicht hofft man dabei, irgendwann mal das eine Kästchen zu finden, das es nun aber wirklich bringt, das alles sagt, alles beschreibt und enthält, aber dann ist man auch schon wieder beim Leben und das kann man sich eigentlich sparen, denn da ist man ja sowieso schon.
Man könnte nach Äußerlichkeiten fragen, Handlungen, jemand greift ein, dann verändert sich was, aber was ist das schon, das ist eine Sache der Perspektive, der Einzelne mag das Gefühl haben, irgendwo eingegriffen zu haben und etwas zu verändern, von der Perspektive eines fantastischen Vogels aus gesehen ist das aber auch nichts anderes als eine kleine Bewegung im großen Strom, angestoßen von einer anderen kleinen Bewegung im großen Strom, die sich in einer weiteren ziellosen kleinen Bewegung im großen Strom ausspielt. So gesehen haben diese Äußerlichkeiten auch nichts zu erzählen. Sie reihen sich ein in den großen Strom des Erzählens, das ja, das ist eine andere Geschichte. Es ist eine Geschichte, und natürlich kann man eine Geschichte erzählen, auch viele Geschichten, die Formen haben, Formen suggerieren, wo sonst keine Formen zu erkennen sind, nur Ströme durcheinanderschwirrender Teilchen, Bewegungen, Formen jedenfalls nicht. Formen wünschen wir uns, weil unsere Wahrnehmung dazu neigt, solche zu erfinden. Wozu das dient, weiß man nicht. Doch, es soll uns Halt geben. Orientierung. Soviel Halt und Orientierung uns diese Eigenart gibt, das Formenerfinden, soviel Verwirrung stiftet sie auch. Man neigt dazu, die Formen zu verwechseln mit dem, was da ist. Man denkt, es ist da, was man in Wirklichkeit nur erfunden hat. Ich nähere mich dem Kern.
So wie man sich ihm nähert, ist er aber auch wieder verschwunden. Es war ja auch keiner da, vermutlich, nur ein Umriß, die Andeutung eines Umrisses, irgendwelche Linien, die einen Moment lang so aussahen, als seien sie ein Umriss, als sei etwas in ihnen, das sie umreißen, also umschließen oder umschlossen hatten, das jetzt nicht mehr da ist. Ist das ein Beweis?
Wofür? Es wäre gut, weniger Worte zu machen, aber die Wörter sind das einzige, was es hier gibt, in dieser Welt. In dieser Welt. Aber so wie hier ist es in jeder Welt. Immer gibt es nur das, was es gibt, und man kann es nicht beschreiben. Man kann das Papier beschreiben, indem man Wörter darauf malt. Eins nach dem anderen und so weiter. Sie ketten sich aneinander, daraus ergibt sich auch eine Bewegung. Viele kleine Bewegungen, die zu einem großen Strom werden. Der fängt irgendwo an, verläuft ziellos, um dann irgendwo aufzuhören, wo etwas anderes anfängt. Oder weitergeht. Wie also anfangen.
Es hat ja schon angefangen. Nur ein kleiner Anfang, den man überwinden muß. Das ist doch leichter getan, als gedacht. Es ist ohnehin leichter, wenn man nichts dabei denkt. Das Denken ist nur eine Störung, es kommt darauf an, ohne Störung weiterzukommen. Zurückzukommen. Zum Anfang zurückzukommen, das wäre so ein Ziel, das nicht zu erreichen ist, nur der Auslöser, dieses vermeintliche Ziel, für eine Bewegung, die verläuft, niemand weiß, wohin.
Nur daß es jetzt stoppt. Ein Stau. Eine Stauung. Es geht nicht weiter. Eine Weigerung. Die zurückführt zu dem Gefühl, im Nachklang eines großen Weinens zu sitzen. Ausführliches Weinen. In den Teichen zu sitzen, in der Pfütze. Das ist unerheblich, aber man muß irgendwo anfangen, immer wieder anfangen, oder weiterkommen. In der Pfütze sitzen und mit dem Finger herumsuchen. Nach Würmern suchen, nach ertrunkenen Fliegen, nach dem aufgeweichten Rest eines Sylvesterknallers, nach dem matschigen Brei von irgendwas, nach Dreck, Erde, Ausgestoßenem. Die Weigerung, sich von den Geschichten fortziehen zu lassen. Sich bloß nicht darauf einzulassen. Es geht sowieso nicht.
Denn es gibt keine Geschichten, und das macht die Sache auch schwierig, vielleicht wird es aber auch leichter, man hangelt sich entlang, an Hölzchen, Stöckchen und Kleinigkeiten, die selbst keine Rolle spielen, nur Halt geben, für das Drumherum. Damit einem etwas dazu einfällt. Es fällt auch was ein, aber darauf darf man sich dann nicht einlassen. Man darf sich einfach nicht darauf einlassen, diese Dinge zu erwähnen. Weil sie einen gleich auf irgendeine Fährte führen, die mit Sicherheit falsch ist. Was sich über kurz oder lang, meistens sehr schnell herausstellt. Das muß vermieden werden, und deshalb fangen wir das gar nicht erst an. Es macht einen auch müde, wenn man nur im Brei herumwühlt. Immerhin, auch das ermüdet. Und die Müdigkeit ist ein konkretes Gefühl. Eine körperliche Empfindung, die zu mir spricht, der ich folgen kann. Das ist eine Anweisung und das ist eine gute Anweisung, es ist jedenfalls nichts Falsches, ich kann da nichts falsch machen, denn es ist einfach zu sagen, ich bin müde, also gehe ich schlafen. Dagegen kann niemand etwas sagen. Es gibt keine Einwände, und das ist schon mal ein guter Anfang. Anfang, fürs erste.
Wenngleich nur ein Aufschub. Das Schlafen schiebt alles auf, aber wir lassen es uns gefallen.
Man kann dabei nichts falsch machen.